Dienstag, 18. Juni 2013

Digitale Dynamik: Die TeleFusion (1993)

Autor: Raimund Vollmer


»Wenn die achtziger Jahre die Zeit der Medientycoons war, so sind die neunziger Jahre die Ära der selbsternannten Vi­sio­näre.« The Economist, 16. Oktober 1993
New York. Mittwoch. 13. Oktober 1993. Es war der »Deal des Jahr­hun­derts« (Wall Street Journal). Doch lediglich eine Hand­voll Ein­ge­weih­­ter wusste davon. Selbst in Vier‑Augen‑Ge­sprä­chen hatten die bei­den höchsten Akteure, Raymond W. Smith und John C. Malone, in den Wo­chen zuvor über ihre Fir­men nur in [1]Codenamen gesprochen. Nun wurde die TeleFusion pu­blik: Ein multimedialer Koloss mit einem gemein­sa­men Vermögenswert von 60 Mil­liarden Dollar soll ent­stehen:

Der vornehme Fernmelde­riese Bell At­lantic mit dem Codenamen Shamrock (Umsatz: 12,6 Mil­liarden Dollar) schluckt für einen Betrag zwischen 28 und 33 Mil­liarden Dollar

den größten und wildesten amerikanischen Kabel­fern­seh­betreiber, die Tele‑Com­mu­ni­cations Inc.(TCI). (Umsatz 3,6 Milliarden Dollar) aus Denver (Co­lorado). Deren Co­de­name: Ireland.[2]

Die Bedeutung dieses gigantischen Zusammenschlusses, auf den sich zwei so unterschiedliche Unternehmertypen wie Bell Atlantic‑Chef Smith und TCI‑Boß Malone geeinigt hatten, werde größer sein als ihr ge­mein­sames Ver­mögen. So kom­men­tierte das bri­ti­sche Wirt­schafts­ma­gazin The Econo­mist das Jahr­hun­dert­ereignis: »Es ver­heißt letztlich eine Revo­lu­tion in der Tele­kom­mu­nikation, die die Welt verändern wird.«[3] Und die Lon­do­ner Fi­nancial Times prophezeite, dass diese TeleFusion eine »Menge Nach­ahmer bei den anderen Firmen des Fernmeldebe­reiches und der Ka­bel­fernsehbranche« finden werde.[4]

Das amerikanische Wirtschaftsmagazin Fortune stieß ins selbe Horn und mutmaßte, dass jetzt an den Börsen ein »Deal nach dem anderen« abgespult werde. Jeder sei dabei von derselben »digi­talen Dyna­mik« angetrieben, die auch Bell Atlantic und TCI zusam­mengebracht habe.[5] Business Week nann­te den neuen Verbund die »kühn­ste Wette auf die kommende Konvergenz von Com­pu­ter, Kommu­ni­kation und Me­dien«. Die Vereinigung dieser drei Tech­no­logiefelder bildet den Hinter­grund für die Ver­schmel­zung von Un­ter­nehmen.[6] Aber sollte der Deal tatsächlich Schule machen, dann wäre nicht die Computerindustrie der Systemführer, son­dern die Fernmeldebetreiber.

»Ziel all dieser Aktivität ist, die integrierten Informations­konzerne des 21. Jahrhunderts zu schaf­­fen«, konstatierte griffig & richtig Konrad Seitz, deutscher Botschafter in Italien und Mitglied der baden‑württem­bergischen »Zukunftskommission 2000«.[7] Anstatt aber nun daraus die Erkenntnis zu gewinnen, dass diese »integrierten Informations­kon­zerne« schlichtweg die Allgegenwart der Technologie voraussetzen und die wahre Schlacht um die Herr­schaft über immaterielle Güter, um die Inhalte, geführt wird, fällt Seitz wieder zurück in die Hochtech­no­logie‑Debatte, die er selbst Anfang der neun­ziger Jahre initiiert hatte. »Wer auf die Geschichte der euro­päi­schen Halbleiter‑, Computer‑ und Unterhaltungselektronik, aber auch der Industrie der neuen Werkstoffe in den achtziger Jahren zurückblickt, der blickt auf eine Geschichte ununter­bro­che­nen Rückzugs«, meint der Nationaltechnologe in der Hamburger Wo­chen­zeitung Die Zeit. Nicht falsch, aber das Drama dieses Rück­zugs besteht darin, dass wir unentwegt die Zukunft nachahmen, die andere uns vormachen. Wir betreiben immer nur Aufholjagden, die stets in einer Subventionierung der Zukunft von gestern en­det.

Im Prinzip stagniert unsere Diskussion auf dem Niveau der sechziger Jahre, als der französische Publizist Jean‑Jacques Ser­van‑Schreiber in seinem Buch Die amerikanische Herausforderung beschwor und vor ihrem Hintergrund die erste große und teure Aufholjagd anregte. Sie überdeckte das eigentliche Dilemma: Wir lassen uns auf keine Denkabenteuer ein. Herbert Henz­ler, Deutschland‑Chef der Unternehmensbera­tung McKinsey, ist viel näher am ei­gent­lichen Kritikpunkt, wenn er deutschen Vorständen »mangelnde Visio­nen und unklare Ziele« vorwirft.[8] Ihnen fehlt die Gabe, neue Welten zu insze­nieren, die vor allem den Platz anregen, der Zukunft stets am schnell­sten vorwegnimmt: die Börse.


[1] The Economist, 16.10.93: »The tangled webs they wave«

[2] Business Week, 25.10.93, Mark Land­ler, Bert Ziegler, Mark Levy, Leah Nathins Spiro: »Bell‑Rin­ger«

[3] The Economist, 16.10.93: »Make way for multimedia«

[4] Financial Times, 14.10.93, Mar­tin Dickson: »Bell ring for pro­phets of informa­tion age«

[5] Fortune, 15.11.93, John Huey/Andrew Kupfer: »What that merger means for you«

[6] Business Week, 25.10.93, Mark Land­ler, Bert Ziegler, Mark Levy, Leah Nathins Spiro: »Bell‑Rin­ger«

[7] Die Zeit, 12.11.93, Konrad Seitz: »Rat für die Zukunft«


[8] Die Zeit, 5.11.93: »Vom Pioniergeist keine Spur«

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