Montag, 1. Oktober 2012

Der Kampf der Jahrtausende (Teil 3)



»Nichts ist praktischer als eine gute Theorie«

Immanuel Kant, Philosoph

3. Das Gesetz der Kraft

Bei alldem folgt die Menschheit einem ewigen, ökonomischen Gesetz, das gleichsam das gesamte Sein durchzieht, dem sich der Mensch selbst im Cyberspace nicht entziehen kann, hier sogar seine Vollkommenheit erlangt. Nietzsche schreibt mit Blick auf das 20. Jahrhundert: »Das, was das Wachstum im Leben ausmacht, ist die immer sparsame und weiter rechnende Ökonomie, welche mit immer weniger Kraft immer mehr erreicht... Als Ideal das Prinzip des kleinsten Aufwandes...«
Diesem Prinzip zum Durchbruch zu verhelfen, war die große Leistung der letzten hundert Jahre. Die Durchsetzung dieses Gesetzes sorgte für den Untergang so mächtiger Imperien wie der Sowjetunion. 1986 schrieb Seweryn Bialer, Wissenschaftler an der School of International and Public Affairs der Columbia University, in seinem Buch »The Soviet Paradox«: »Die Sowjetunion produziert nahezu 50 Prozent mehr Stahl als Amerika und Japan, trotzdem ist Stahl eine Mangelware. Mit Stahl wird verschwenderisch umgegangen. Maschinen aus sowjetischer Produktion sind doppelt so schwer wie die des Westens. Jeder, der einmal versucht hat, in einem Moskauer Hotel einen Fernsehapparat hochzuheben, weiß das.«[1]
Während der kapitalistische Westen sich mit nie erschöpfendem Willen bemühte, immer mehr aus immer weniger herauszuholen, schuf der planwirtschaftliche Osten immer weniger aus immer mehr. »Sozialismus ist vor allem Rechnungslegung«, hatte der Gründer der Sowjetunion Wladimir Iljitsch Lenin einst doktriniert. Das Spiel mit den Zahlen und Plänen würde sogar auf Dauer das Geld entbehrlich machen. Doch der Rubel überlebte sogar den Sozialismus, der mitsamt seinen Plänen an seinem eigenen Gewicht zugrunde ging.
1989 formulierte der amerikanische Publizist George Gilder in seinem Buch »The Quantum Revolution in Economics and Technology«: »Das zentrale Ereignis des 20. Jahrhunderts ist der Sturz der Materie. In Technologie, Wirtschaft und in der Politik der Staaten hat der Wohlstand in Form physischer Ressourcen ständig an Wert und Bedeutung verloren. Die Macht des Geistes siegt überall über die rohe Kraft der Dinge.«[2] Berühmt wurden diese Sätze sechs Jahre später, 1995, als sie Eingang in die Magna Charta des 21. Jahrhunderts fanden. In ihm wird der Sturz der Materie erweitert um den Sturz der Strukturen, die uns im vergangenen Jahrhundert zu komplex geraten sind. Doch blicken wir zuerst einmal zurück auf die Segnungen der letzten hundert Jahre.

Wachstum des Wissens

»Alle fünf Minuten entdecken Forscher eine medizinische Erkenntnis, alle drei Minuten einen physikalischen Zusammenhang und jede Minute eine chemische Formel«, rechnete 1990 das Magazin der Süddeutschen Zeitung vor. »Im Vergleich der Jahrhunderte ist dieser Fortschritt längst nicht mehr zu messen: Ein Einführungstext in das Studium der quantitativen Chemie enthält mehr chemische Informationen als alle Bücher des Paracelsus zusammen. Der Mensch aus einer früheren Epoche wäre dieser Überflutung hilflos ausgeliefert.« Dann zitiert das Magazin den Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger: »Ich bin sicher, eine einzige Ausgabe der Bild-Zeitung hätte genügt, um Johann Gottfried Herders Denkvermögen wochenlang mattzusetzen.«[3] Wir aber müssen uns jeden Morgen unsere Meinung bilden.
Eigentlich schaffen wir dies nur, in dem wir Informationen permanent konsumieren, aber nicht reflektieren. Wir folgen blind der prädikativen Logik, die alles, was keinesfalls sicher ist, zu appetitlichen Häppchen verkürzt. Wir schalten das Denken aus. Es wird ersetzt durch Fakten, Fakten, Fakten. Das Wort wird nur noch an seiner Wirkung gemessen, an seinem Nutzen, nicht an seinem Wert, seinem Inhalt.[4]
Daran hat sich in den letzten beiden Jahrzehnten kaum etwas geändert. Dabei hat sich unsere Welt seitdem fundamental geändert.
1990 hatte die Entzifferung des menschlichen Erbgutes, das Human Genome Project, das auf 15 Jahre angesetzt worden war, gerade erst begonnen. Zur Jahrtausendwende war es bereits so gut wie abgeschlossen. Im Februar 2001 meldeten die Genomforscher, dass sie nun mehr als 90 Prozent der 3,2 Milliarden Grundbausteine entziffert hätten.[5] Noch sprach 1990 kaum jemand vom Internet, das in dem folgenden Jahrzehnt zur größten Wissensmaschine der Welt avancierte. Seit 1996 hat das Internet sogar sein eigenes Archiv, in dem man selbst nach alten, längst verlorenen Websites spüren kann.
War die Bibliothek von Alexandria mit ihren 700.000 Buchrollen die größte Wissensmaschine des Altertums, so übernahm in der Moderne  die Library of Congress in Washington mit ihren 112 Millionen Büchern und Dokumenten diese Position.[6] Doch das Internet erklärt nun die gesamte Welt zu einer einzigen, virtuellen Wissensmaschine, in der die Elektronik das Papier ersetzt.
Aber dahinter steckt mehr als nur der bloße Sturz der Materie. Wir müssen nun die gesamte Semantik, die sich wahllos im Netz ausgebreitet hat, rekonstruieren und neu zusammenfügen. So wird aus dem WWW das »Semantic Web«, wie es Tim Berners-Lee, der Erfinder des World Wide Web, nennt. Es werde das Netz in ein einziges »gigantisches Gehirn« (Business Week) verwandeln.[7] Es wird größer sein als unser Gehirn mit seinen 100 Milliarden Neuronen. Es wird größer sein als unsere Milchstraße mit ihren 100 Milliarden Sternen. Vor allem aber bedeutet es die nächste Revolution. In ihr geht es darum, dass  Funktionen mehr und mehr die Struktur ersetzen. Dies verheißt ein phantastisches Geschäftsmodell, das möglicherweise die bisherigen Wachstumsraten, die das WWW der IT-Branche bis 2000 bescherte, übertreffen wird.
Schon jetzt sehen wir, dass sich die globale Speichermenge jährlich verdoppelt. Die Übertragungsleistung in den Backbones des Internets steigt alle zwölf Monate um 100 Prozent, ebenso die Zahl der Hosts. Von ihnen gab es 2001 mehr als 100 Millionen. Im Juli 2012 waren es 908 Millionen. Und es sieht so aus, als würden es 2014 mehr als eine Milliarde Hosts sein. (Siehe auch HIER.)
Die Kosten für Speicherchips reduzieren sich alle 18 Monate um die Hälfte, die Leistung der Mikroprozessoren verdoppelt sich im selben Zeitraum. Und die Geschwindigkeit, mit der die menschlichen Gene entschlüsselt werden, steigt jedes Jahr um den Faktor 2.[8] Das Semantic Web, das das gesamte Wissen der Welt im mühelosen Zugriff halten soll, ersetzt Struktur durch Funktion. Nur so lassen sich die immensen Kapazitäten auch tatsächlich nutzen.
Die pyramidalen Strukturen, die sich im 20.Jahrhundert zur Kontrolle des Wissens und der Prozesse bildeten und für die es keine Entsprechung in der Natur gibt, versetzten zwar Millionen von White Collar Workers in Lohn und Arbeit. Aber diese war wenig produktiv. John Opel, Chef der IBM zwischen 1980 und 1986, meinte 1991, dass es nicht darauf ankomme, White Collar Worker produktiver zu machen, sondern sie schlichtweg zu eliminieren mitsamt ihren Strukturen. Das galt nicht nur für die Wirtschaft, sondern auch für die Staaten – vor allem in den planwirtschaftlich geprägten Ländern: »Die Revolutionen, die wir sehen, die Veränderungen, die wir in der Politik erkennen, sind meines Erachtens eine Funktion der Information.«[9] Die Funktion zerstört die Struktur.
So vollendet die gleichsam schwerelos agierende und fungierende Informatik nach dem den Sturz der Materie den Sturz der Struktur. Sie ist dabei, nicht mehr nur unsere Arbeitswelt von Grund auf neu zu gestalten, sondern unser eigenes Denken immer wieder zu neuen Taten zu inspirieren. Sie folgt unseren Phantasien, unseren Inspirationen, unseren Interessen. Indem sie dies tut, schafft sie auf der Basis von purer Geistesmaterie eine neue, gewichtslose Wirtschaft. Sie vermittelt über ihre Netze mehr und mehr das gesellschaftliche Zusammenspiel.
»Es wird wie im Mittelalter – wir werden wieder eine universale Kultur haben«, meint Flusser. »Der Universalmensch wird wieder möglich werden. Nur wird es kein Mensch sein, sondern ein Computer.« Eine Ernüchterung? Schrumpft der Mensch in seiner Bedeutung? Keineswegs. Schon immer hat der Mensch Dinge erfunden, die größer und stärker sind als er selbst. Doch ein wenig fangen wir schon an zu schaudern, wenn wir nun mit dem Bau von Quantencomputern beginnen, die in Zahlenräume vorstoßen, die größer sind als das gesamte Universum, größer sind als unser Vorstellungsvermögen.
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[1] Fortune, September 1, 1986, Irving Kristol: »What every Soviet leader wants«, danach zitiert
[2] Fortune, August 28, 1989, George Gilder: »The world´s nest source of wealth«
[3] Süddeutsche Zeitung Magazin, July 27, 1990: »Wie uns das Wissen schafft«
[4] Kritische Theorie der Gesellschaft, 1971, Max Horkheimer: »Zum Begriff der Vernunft«
[5] Die Welt, February 13, 2001: »Forscher entziffern Bauplan des Menschen«
[6] Future, January 1999, Irene von Hardenberg: »Ist Wissen Macht?«
[7] Business Week, March 4, 2002, Otis Port: »The Next Web«
[8] Financial Times, December 27, 2001, Charles Leadbeater: »A more uncertain utopia«
[9] Datamation, March 15, 1991: »John Opel« (Interview)

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