Freitag, 5. Oktober 2012

Der Kampf der Jahrtausende (Teil 7)

»Ein Londoner Bürger könnte, während er seinen Morgentee im Bett zu sich nimmt, am Telefon die verschiedensten Produkte aus der ganzen Welt bestellen und zwar in jeder von ihm gewünschten Menge. Selbstverständlich kann er erwarten, dass ihm die Ware frühmorgens direkt vor die Haustür geliefert wird.« 
John Maynard Keynes, Wirtschaftswissenschaftler, in Economic Consequences of the Peace, 1919 [1]


7. Das Ende des Narrenparadieses

Zuerst einmal war an diesem 11.September die Übergangszeit zwischen zwei Jahrhunderten zu Ende gegangen. Mit dem Fall der Mauer am 9. November 1989 hatte das 21.Jahrhundert begonnen, aber erst mit dem 11.September 2001 war das 20.Jahrhundert zu Ende gegangen.
In der Zeit dazwischen, in diesen zwölf Jahren zwischen George Bush und George W. Bush hatten die Vereinigten Staaten nach Aussage des amerikanischen Wirtschaftsmagazins Fortune in einer »Narrenzeit« gelebt.[2] Von einem »Narrenparadies« sprach gar das britische Magazin The Economist.[3] Man hatte in vollen Zügen die Friedensdividende genossen, die das Ende des Kalten Krieges den USA versprochen und auch gebracht hatte.[4]
In der Tat – nach dem Ende des Kalten Krieges schien alles ganz einfach zu werden. Und die New Economy, die sich mit rasender Geschwindigkeit über die Weltwirtschaft ausgedehnt hatte, suggerierte, dass künftig alles noch komfortabler werden würde. Ein Leben in Saus und Braus. Die Netze würden uns mit allem versorgen, was wir brauchten – und zwar in Echtzeit. 
Eine Euphorie wie in den Golden Twenties hatte sich überall breitgemacht. Nicht nur in den USA. Das erwies sich nun als Trugschluss. Das Gewitterleuchten an den Technologie-Börsen hatte dies bereits angekündigt. Vier Billionen Dollar Papiervermögen waren seit dem Höchststand der Börsen im März 2000 allein an der Nasdaq vernichtet worden. Doch niemand hatte das ganze Ausmaß der Selbsttäuschung so richtig erfasst.

Der Begriff »Komplexität«

Um zu verstehen, was sich tatsächlich seit 1989 ereignet hat, muss man wieder bei Flusser nachlesen. Er unterscheidet zwischen struktureller und funktionaler Komplexität. Ein Fernseher ist seiner Definition nach strukturell sehr komplex, aber funktional äußerst einfach. Selbst kleine Kinder können damit umgehen. Ein Schachspiel hingegen mit seinen wenigen Regeln ist strukturell sehr einfach, aber funktional sehr komplex. Das zeigte schon der spektakuläre Kampf zwischen Kasparow und Deep Blue. 
Strukturell komplex, funktional einfach war auch die Schlusszeit des 20. Jahrhunderts. Die staatlichen Systeme funktionierten. Das war der natürliche und selbstverständliche Anspruch jedes Bürgers. Von der Wiege bis zur Bahre kümmerte sich die Öffentliche Hand um alles, vor allem natürlich um sich selbst. Im Schnitt hat sich seit dem ersten Weltkrieg der Staatsanteil am Bruttoinlandsprodukt von neun auf 44 Prozent nahezu verfünffacht. [5] Während die Wirtschaft den Sturz der Materie vollführte, zog der Staat immer mehr Materie an sich.
Dass er sich dabei selbst vollkommen überfrachtete, die Aufgabenlast im Widerstreit der Interessensgruppen kaum noch schultern konnte, das ließ sich im Alltag leicht verdrängen. Das waren die Themen, aus denen am Sonntagabend die Talkrunden gemacht wurden. Klar war nur: Die Schulden musste die nächste Generation schultern.

Der Funktionsschock

Funktional komplex, strukturell einfach – so lässt sich schon heute das neue Jahrhundert charakterisieren. Die Struktur der Next Economy ist ganz einfach. Alles ist vernetzt und steuert sich selbst. Dafür steht das Internet mit seiner ganzen Entwicklungsgeschichte. Denn dieses Netz hat sich – mit ein bisschen Hilfe von Uncle Sam – letztlich selbst gebaut.
Um sich jedoch in den Netzen zu behaupten, um die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, um gleichsam sein eigenes Netz zu spinnen, muss man ein überwältigendes Repertoire an Optionen im Auge behalten – und zwar auf der Zeitachse. Es geht nicht mehr darum, in Räumen zu denken, sondern in Zeit. »Früher war eine große Landmasse die Bedingung für ein maximales Pro-Kopf-Einkommen«, behauptete 1997 William Knoke, Präsident der Harvard Capital Group. »Das war der Hintergedanke, als Deutschland einen großen Teil Europas besetzte oder als Japan im zweiten Weltkrieg in China einmarschierte.« Damals ging es um den Zugang zu Arbeitskraft, Rohstoffen und Märkten. »Aber in der globalen Wirtschaft ist der Zugang zu den Rohstoffen möglich, ohne ihn zu besitzen.« [6] Hinzu kommt, dass nun Wissen der wichtigste Rohstoff ist. Der Wert des Wissens ist aber eine Funktion der Zeit, nicht des Raumes. Dessen geographischen Strukturen verlieren mehr und mehr an Bedeutung. Wissen ist auf unendlich vielfältige Weise einsetzbar.
Viele Unternehmen spüren jetzt diesen Funktionsschock. Der Tod etlicher Dot.coms hat hierin seine Ursache. Angelockt durch die strukturelle Einfachheit der Netze mit ihren äußerst niedrigen Zutrittsschranken zu den Fleischtöpfen der Zukunft wurden sie von der funktionalen Vielfalt schlichtweg überwältigt. Die »superconnecting technologies«, denen sie ihre Existenz zu verdanken hatten, verlangten ihnen eine derartige Fülle an funktionalen Aufgaben ab, dass sie scheitern mussten.
Die Betriebe, die in der Mitte des 20. Jahrhunderts geboren wurden, stecken in einer kaum geringeren Klemme. Ihr Problem ist, dass sie ihre strukturelle Komplexität – ihr Denken in Räumen – noch nicht wirklich überwunden haben. Was man sich aufgebaut hat, verleitet nun mal zur Bequemlichkeit. Es brachte aber auch hohe Standort-Kosten. So sind viele Reflexe in den Entscheidungsetagen mancher Betriebe noch darauf ausgerichtet, den Besitzstand zu wahren und hemmungslos staatliche Hilfen einzufordern. Man verschiebt die Probleme in die Zukunft, setzt auf Restauration.
Das geht schief. Selbst wenn die Attacken der dot.coms und anderer Aggressoren nicht ohne Geschick und mit viel Ranküne abgewehrt worden sind, entgeht die Old Economy nicht ihrem Schicksal. Denn sie befindet sich in der Defensive. Sie denkt nicht strategisch – oder besser – funktional. Sie denkt strukturell. Und das dauert zu lange, ist viel zu träge.
Zehn bis 20 Schritte vorauszudenken, ohne sich dabei in Kausalketten zu verstricken, das ist eine Kunst, die nur wenige beherrschen. Wer dieses Spiel beherrscht, macht in der Old Economy nicht unbedingt die entsprechende Karriere, um seine Kunst auch beweisen zu können. Er muss letztlich wie Jeff Bezos, Michael Dell, Hasso Plattner, Tom Siebel oder auch Bill Gates sein eigenes Unternehmen gründen. Auch dann ist der Erfolg nicht garantiert.
Zwölf Jahre lang hatten wir das Nebeneinander von Bequemlichkeit und Einfachheit. Das war das Narrenparadies. Seit dem 11. September ist alles anders. Nichts ist mehr bequem. Nichts ist mehr einfach.
TEIL 1 // TEIL 2 // TEIL 3 // TEIL 4 // TEIL 5 // TEIL 6 // TEIL 7 // TEIL 8 // TEIL 9 // TEIL 10 // TEIL 11 //



[1] Newsweek, November 10, 1997, Michael Elliott: »The Truth About Miracles«
[2] Fortune, October 1, 2001, Bill Powell: »Battered but unbroken«
[3] The Economist, September 15, 2001: »The day the world changed«
[4] Business Week, December 11, 1989, Karen Pennar, Michael J. Mandel, Dave Griffiths, Keith H. Hammnonds, Todd Vogel, Eric Schine: »The Peace Economy«
[5] The Economist, July 13, 1999, Brian Beedham: »The road to 2050 – A survey of the new geopolitics«
[6] New World, 1/1997, William Knoke: »Das Ende der Nationalstaaten?«

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