Donnerstag, 11. Oktober 2012

Der Kampf der Jahrtausende (Teil 12)



»Ich weiß ganz genau, dass uns in diesem Augenblick das gesamte Universum zuhört.«
Jean Giraudoux, französischer Schriftsteller (1882-1944)

12. Die Formel S



Die Anfänge des Cyberspace gehen auf die sechziger Jahre zurück. Damals machte man sich am Massachusetts Institute of Technology (MIT) erstmals Gedanken über ein Netz, das selbst einen atomaren Angriff überleben könnte. Im November 1969 war es dann soweit. Das ARPANET, Vorläufer der Internets, ging an den Start. Es war ein Militärnetz, ein Wissenschaftsnetz – vor allem aber eine Spielwiese für neue Werkzeuge.

Zu diesem Zeitpunkt hatte sich überall in den hochindustrialisierten Ländern eine neue Elite etabliert, die sich voll und ganz den neuen Technologien verschrieben hatte. Immerhin war es dieser Elite gelungen, den ersten Menschen zum Mond zu schicken und wieder zurück zu holen. Dank massiven Einsatzes von Geld, Intelligenz und Computern. Die USA bildeten die technologische Spitze. Sie prägten auch den neuen Menschentyp, für den alles machbar schien.
Die Techniker bildeten das Herzstück der New Economy von damals. Sie ersetzten Erfahrung durch Technologie. Sie sahen sich als die Herren der neuen Schöpfung, des Computers. Das Elektronenhirn, wie die Boulevardpresse den Computer nannte, war die wahre Zukunftsmaschine. Es produzierte mit maschineller Intelligenz die Zukunft in Staat, Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft. Der Computer war die Zukunft. Und die Computerleute sahen sich als die Hohenpriester dieser Zukunft. Rigoros räumten die Emporkömmlinge, die einer Tätigkeit ausübten, für die es kaum eine geregelte Ausbildung gab, in den Unternehmen mit der Vergangenheit auf. Wissen und Erfahrung zählte nur noch als Software. Damit ließ sich jedes Unternehmen strategisch neu aufstellen. Und Strategieberatung war das nächste Zukunftsfeld, mit dem die Menschen anfingen, ihre Herkunft zu überwinden. Zur Technologie kam die Methode. Sie ersetzte das Wissen. Die Frage nach dem Was wurde ersetzt durch die Frage nach dem Wie, die Frage nach der Strategie.
Die 1963 gegründete Boston Consulting Group hatte als erste das Thema Strategieberatung popularisiert. Sie war noch völlig ausgerichtet auf Unternehmen des Massenproduktionszeitalters. Ob die Berater nun mit Lern- und Erfahrungskurven jonglierten oder das Spielfeld, den Markt und seine Wettbewerber, in Quadranten aufteilten, immer ging es darum, die Betriebe strategisch zu positionieren – in Richtung Zukunft. Um im Beratungsgeschäft zu reüssieren, musste man nicht sonderlich viel Erfahrung oder gar Branchenwissen mitbringen. Was gebraucht wurde, war ein Stab von Interviewern, die alle notwendigen Informationen aus den Mitarbeitern herausquetschten. Die Daten wurden dann analytisch ausgewertet und entsprechend dem Tableau in Kurven und Matrizen zusammengestellt. Wenn dann alles nicht so kam, wie gedacht, dann lag es nicht an der Analyse, es lag an der Umsetzung. Das Unternehmen hatte ein Implementierungsproblem.[1] Anders formuliert: Es fehlte an Wissen und Erfahrung.
In den achtziger Jahren tauchten dann Thomas J. Peters und Robert H. Waterman auf und erzählten, was sie bei der »Search of Execellence« herausgefunden hatten. Erstklassige Firmen zeichneten sich dadurch aus, dass sie die sieben S beherrschten: Das erste S galt der Staff, der Belegschaft. Das zweite S hob den Skill hervor, das Wissen. Dem Style,  dem Managementstil, war das dritte S gewidmet. Hinzu kam das S wie Systems. Damit war das Kommunikationsmuster gemeint. Die Structure oder die Unternehmensorganisation bildete das fünfte S. Mit dem sechsten S adressierte man die Shared Values, die gemeinsamen Werte. Die Krönung bildete selbstverständlich die Strategy, das siebte S.
Das Zusammenspiel dieser Erfolgsfaktoren innerhalb und außerhalb des Unternehmens entschied darüber, wie gut ein Betrieb sich behauptete. Auf jeden Fall wurden den Unternehmen immer wieder Kästchen zur Verfügung gestellt, mit denen sie ihre eigene Komplexität meistern und mildern konnten. So sollte die Zukunft die Herkunft in den Griff bekommen. Es kam stets nur auf die richtigen Werkzeuge und Me­tho­den an. Seltsam war nur, dass nach Erscheinen dieses Buches ausgerechnet jene Unternehmen reihum versagten, die Peters und Waterman zuvor in ihrem Bestseller ausgelobt hatten. Irgendetwas stimmte nicht. Die Herkunft bestimmte immer noch die Zukunft.
Hatte die breite Bevölkerung anfangs die Segnungen der Maschinen begrüßt, so schlugen mit steigendem Rationalisierungserfolg die Erwartungen in Ängste um. Aus dem Elektronenhirn, das auf Knopfdruck alles liefert, was das Herz begehrt, wurde der Jobkiller, der die Grundlagen des industriellen Zeitalters unterminierte: den Arbeitsplatz.
Nun stellte sich zunehmend die Frage, wer künftig die weitere Entwicklung bestimmen würde. Herkunft oder Zukunft? Gesellschaft oder Technologie? Doch bei der Suche nach einer Antwort musste zuerst einmal die Perspektive zurecht gerückt werden – ganz im Sinne des amerikanischen Historikers Thomas Parke Hughes, der 1987 bemerkte: »Man sollte nicht die Auswirkungen der Technik auf die Gesellschaft untersuchen, sondern den Einfluss der Gesellschaft auf die Technik, weil die Technologie ein kulturelles Artefakt und ein Ausdruck gesellschaftlicher Werte ist.«
Der Schwerkraft dieser gesellschaftlichen Werte, des kollektiven Wissens und der Lebenserfahrung schien sich dann in den neunziger Jahren die New Economy entziehen zu wollen. Ihre Mitglieder, die Neue Elite, ersetzte in ihrem Ungestüm nicht nur Wissen und Erfahrung durch Technologie und Netze, sie wollte gar den Sturz der Materie vollenden, das Industriezeitalter endgültig begraben. Alles sollte nur noch virtuell gesteuert werden im Zeichen des allgegenwärtigen »e«. Doch seit ihrem steilen Höhenflug ist die New Economy nun am Boden der Tatsachen zerschellt. Niemand war da, der Humpty-Dumpty wieder zusammenfügte. 
Was war falsch gelaufen? Die Antwort ist einfach: Wissen, Erfahrung und Wertesysteme lassen sich nicht einfach durch Technologie ersetzen. Nicht durch Analysieren, Strukturieren, Kategorisieren, durch Formeln oder sonstige Methoden. Diese bilden nur den Werkzeugkasten. Wissen, Erfahrung, Werte – das sind die Gegenstände, die es zu bearbeiten gilt. Beide Seiten sind aufeinander angewiesen.
Das Problem ist: Werkzeuge und Methoden absorbieren so viel Kraft und Zeit, dass für den eigentlich zu bearbeitenden Gegenstand kaum Aufmerksamkeit übrigbleibt. Schlimmer noch: Da die Werkzeuge sich ständig ändern oder in rascher Abfolge gegenseitig substituieren, entwerten sie sogar das mühsam erworbene Werkzeugwissen. So werden nicht nur das Wissen und die Erfahrung anderer, sondern auch der eigene Wissensschatz in die Vergangenheit gestoßen. Damit zerstört sich die »kreative Zerstörung« (Schumpeter) permanent selbst. Die Lösung aus dem Dilemma: Wissen und Erfahrung sind keine Kategorien mehr, die in die Vergangenheit gehören und unsere Herkunft beschreiben. Sie sind Teil der Zukunft, vielleicht sogar deren entscheidender.
Nur so bewahrheitet sich Vlussers Aussage. Wir sind tatsächlich von Zukunft umgeben, geradezu umzingelt. Das gilt besonders für jene Nationen, die mit einem völlig neuen Phänomen konfrontiert werden: mit dem Alterungsprozess. Die Zukunft ist immer mehr unsere Herkunft. Und wir sollten dabei sehen, dass auf jedem wichtigen Wissensgebiet heute mehr Experten leben als vor uns je gelebt haben. Die meisten von ihnen sind nicht nur Spezialisten auf einem Gebiet, sondern auf mehreren. Wir erleben uns selbst als Vielheit.
TEIL 1 // TEIL 2 // TEIL 3 // TEIL 4 // TEIL 5 // TEIL 6 // TEIL 7 // TEIL 8 // TEIL 9 // TEIL 10 // TEIL 11 // TEIL 12 // TEIL 13 //

[1] Fortune, December 27, 1982, Walter Kiechel: »Corporate Strategy«

Keine Kommentare: