Dienstag, 9. Oktober 2012

Der Kampf der Jahrtausende (Teil 11)

»Die Zukunft macht eine Pause – und dann einen Sprung.«
Robert L. Bartley, Columnist des Wall Street Journals

11. Kunstraum der Zeit

Wer sich aufmacht, um zu erkunden, was die Zukunft an Neuerungen bringt, wird zurückkehren mit einer Fülle von Ideen. In den Labors und Zukunftswerkstätten wird mit Volldampf am 21. Jahrhundert gearbeitet. Schon werden die Ideen und Visionen kartographiert und katalogisiert. Sie werden entlang der Zeitachse positioniert, so dass jeder den Zeitpunkt ihrer mutmaßlichen Marktreife abschätzen kann. Das Ganze hat Tradition. 1967 hatte die Delphi-Studie erstmals mit dem Erfindungspotential des Menschen experimentiert. Auch wenn viele der Prognosen, die bis weit in dieses neue Jahrhundert reichten, sich längst als hoffnungslos falsch erwiesen haben, so war die Studie doch ein wunderbares Kartenwerk, voller Faszination, voller Hoffnung, voller Aufbruch.
Jetzt stehen wir vor einer vergleichbaren Situation. Wir zeichnen die Landkarten der Zukunft. Das Terrain, das es vor allem zu erschließen gilt ist das Internet. Noch ähneln dessen Prognosekarten sehr stark jenen kunstreichen, aber hoffnungslos falschen Aufzeichnungen des Mittelalters. »Wir können hier ruhig sitzen und über das reden, was geschehen wird«, meint Paul Saffo, Direktor des Institute for the Future. »Aber ich garantiere, dass das Internet uns am Ende alle überraschen wird. Es gehört zu meinen Erfahrungen als Zukunftsforscher, dass die am stärksten erwartete Zukunft ziemlich spät eintritt – und in vollkommen unerwarteter Weise.«[1] Ein paar der Überraschungen haben wir inzwischen erlebt. Und es werden noch viele folgen.
So wie die alten Karten, in denen die Phantasie das Wissen ersetzte, zu der Entdeckung Amerikas und Australiens, zur Erkundung Afrikas und Asiens führten, so sind auch jetzt unsere Pläne, Visionen und Ideen die Wegbereiter der Zukunft. Vor einem halben Jahrtausend erschlossen wir uns mit den alten, phantasiereichen Karten die gesamte Welt. Heute lassen wir unsere Landkarten höchstwissenschaftlich und mit äußerster Präzision von Satelliten im Weltall aufzeichnen, prognostizieren das Wetter und erkunden vom Himmel aus die Bodenschätze der Erde. Wir brauchen keine Phantasie mehr. Sie wird ersetzt durch Perfektion und Präzision. Aber reicht das? Wird damit wirklich schon das Neue geschaffen? Mit Perfektion und Präzision schafft man grundsätzlich nichts Neues. Dazu braucht man Glück und Phantasie, Versuch und Irrtum. Und schon sind wir dabei, uns zu überraschen. GPS sei Dank. Googles Maps und StreetView seien gelobt und gepriesen. Sprünge in eine Zukunft, in der es bald sich selbststeuernde Fahrzeuge geben wird. Träume von gestern werden wahr.
Diese überraschenden Faktoren einzukalkulieren, das ist Aufgabe der Futurologie. Deshalb meinte bereits 1971 Herman Kahn, der Dekan der Zukunftsforschung:  »Die Erforschung der Zukunft ist eine Kunst und keine Wissenschaft.«
An dieser Aussage des Zukunftsforschers hat sich auch in den letzten vierzig Jahren nicht viel geändert. Wir besitzen noch immer nicht jene Satelliten, die minutiös in die Zukunft schauen. Aber in einem Punkt sind wir wesentlich weiter als vor drei Jahrzehnten. Wir stehen endlich an der Schwelle zu einem Zeitalter, in dem wir der Zukunft eine vielfältige Gestalt geben können. Wir haben längst den Zeit-Raum geschaffen, in dem alles Zukunft ist – auch unsere Herkunft. Es ist der Cyberspace. Nun ist es an der Zeit, ihn zu gestalten.
»Wir müssen dafür sorgen, dass die neuen digitalen Landschaften für uns geschaffen werden, anstatt dass wir uns an ihre Werte anpassen«, meint Bill Joy, Mitgründer von Sun Microsystems. Diese Landschaften »müssen unsere Wahrnehmungen und unsere Gefühle reflektieren. Das wird nicht einfach zu bewerkstelligen sein, es kann nicht dem Zufall überlassen werden. Die zweite Chance besteht darin, dass wir diese neuen Landschaften wunderschön gestalten. Dafür brauchen wir mehr denn je ein großartiges Design.«[2] Wir brauchen ein Design, das weitaus mehr umfasst als das, was der Cyberspace heute enthält.
Noch sieht man ihm zu sehr die Werkzeuge an, mit denen er gebaut wurde. Noch haben wir wie Columbus vor 510 Jahren gerade einmal erst die Randzonen des neuen Kontinents betreten. Aber allmählich ahnen wir, was die Neue Welt uns verheißt. War Amerika das Land der unbegrenzten Möglichkeiten, so ist der Cyberspace das Land der unbegrenzten Unmöglichkeiten.  Und einer wie der Apple-Gründer Steve Jobs trat an, um der digitalen Welt Schönheit zu lehren.
Endlich können wir unsere Phantasien voll ausspielen, wir können sie sogar gegeneinander antreten lassen. Im Guten wie im Bösen. Alles kann hier eine virtuelle Gestalt annehmen. Wir können simultan tausend Wetten loslassen. Wir können gar gegen unsere eigenen Wetten wetten. Wir digitalisieren unser Wissen, um es mit unseren Ideen interagieren zu lassen. Unsere Geschichte kommuniziert mit unseren Plänen – und umgekehrt. Wir konzertieren unsere eigene Welt. Wir sind dabei, der Zeit einen künstlichen Raum zu schaffen. Im Cyberspace navigieren wir durch die Zukunft – egal, woher wir kommen.

[1] Fortune, October 9, 2000, Eric Nee: »Paul Saffo«
[2] Fortune, March 6, 2000, Bill Joy: »Design for the digital revolution«

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