Dienstag, 15. Mai 2012

Teil V: Das Projekt Taurus - Gipfel für Talisman

»Je mehr ein Problem diejenigen bedroht, die es lösen sollen, desto mehr wird es begraben unter sich verzweigenden Schichten der Tarnung.«

Professor Chris Argyris, Harvard University, Gesetz über die organisatorische Dummheit

London. Donnerstag, 1. Juli 1993. Zuerst kam die gute Nachricht. Talisman bleibt. Dann folgten die bad news. Frühestens ab Frühjahr 1995 soll CREST ‑ das heißt Gipfel ‑ das Ur­altsystem ablö­sen. Doch zum Glück war dies nur ein Vorschlag. Es war noch kein Be­schluss. Mehr noch: selbst wenn dieses Konzept Wirklichkeit wer­den würde, war niemand dazu verurteilt, sich dieser neuen Lösung für ein neues Börsenabrechnungssystem am London Stock Exchange zu beu­gen. Alles sollte auf Freiwilligkeit basieren. In der vordersten Verantwortung würde nur einer stehen: die Bank of England, die wohl einzige natürliche Autorität, die die City an­er­kennt.

Mit diesem Vorschlag war an diesem Tag, knapp vier Monate nach dem Scheitern von Taurus, eine task force unter Vorsitz von Pen Kent an die Öffentlichkeit getreten. Dieser Mann, der als Chairman der Projektgruppe von der Bank of England die Federführung übernommen hatte, war »voller Hoffnung«, dass dieses Projekt erheblich preiswerter sein werde als Taurus. So rechte Begeisterung wollte sich dennoch nicht breit­machen. Der Grund: die vielfältigen, alten Behar­rungs­kräfte, die mit ihrer Sturheit bereits das Vorgängerprojekt zu Fall gebracht hatten, meldeten wieder Bedenken an. Diesmal war es die Association of Private Client Investment Managers and Stockbrokers (APCIMS), die sich unzufrieden zeigte.

Viele der Mitglieder, die Klein­anleger betreuen, fürchteten, dass CREST ihrer Klientel einer Zeitlücke berauben würde, über die diese bislang die Börse immer hatten elegant austricksen können.[1]

Schon die Geschichte von Taurus zeigt, wie äußerst kreativ die City bei ihren Bemühungen sein kann, wenn es darum geht, etwas zu Fall zu bringen, was ihre einzelnen pressure groups prinzi­piell nicht wollen: eine Veränderung ihrer Arbeitsweise, ihrer Gewohnheitsrechte oder Geldquellen.

Der Schwund der Autorität. Bei Taurus hatten die Lobbyisten ge­siegt, indem sie das Projekt kollektiv mit immer höheren Anfor­derungen über­schüt­teten, die in ihrer Summierung nicht erfüllt werden konnten. Es konnte nun sein, dass CREST abgelehnt wurde, weil es bestimmte Grup­pen überforderte. Wohlweislich hatte die task force deshalb den neuen Vorschlag auf der Basis der Freiwilligkeit po­sitioniert.

Niemand sollte gezwungen werden, sich den Geschäftsbedingungen von CREST zu unterwerfen ‑ eine Lektion, die die London Stock Exchange aus dem Taurus‑Desaster gelernt zu haben schien. Doch mehr noch zeigte sie, wie gewaltig der Autoritätsverlust der LSE seit dem Big Bang, der Großen Deregulierung von 1986, war. Sie besaß kaum noch Durchsetzungskraft.

Die Bank of England musste schon mit ihrer ganzen Autorität einspringen, um überhaupt noch etwas zu be­wegen. Zum, Glück hatte sie justament, am 1. Juli 1993, mit Eddie George einen neuen Präsidenten bekommen, der für seine große Computer‑Leidenschaft bekannt war.[2] Würde unter seiner Führung die City endlich die Notwendigkeit von Infrastruktur­maßnahmen begreifen?

»Es ist für London als einem großen internationalem Finanz­zentrum wichtig, über ein effizientes Abrechnungssystem zu verfügen«, warb Pen Kent für das Gemeinschaftswerk, das CREST sein sollte, obwohl die Anschubfinanzierung von der Bank of England kom­men sollte. Und sie wollte auch die Entwicklungsmannschaft stellen.[3] Gelang das Unterfangen, dann würde sich die City kaum dem Angebot widersetzen können ‑ wie bereits bei SEAQ, dem 1986 eingeführten Börsenhandelssystem.

Den Einsatz von SEAQ, das in der ersten Hälfte der achtziger Jahre entstand, hatte die LSE noch gleichsam diktieren können. Bei Taurus hatte sie, selbst ein Opfer der Deregu­lierung, um Zustimmung werben müssen. Sie brachte nicht die not­wendige Autorität auf. Die sollte nun die Bank of England in die Waagschale werfen. Es war ein hohes Risiko.

Superprojekte müssen von ihrer inneren Struktur her zutiefst au­to­ritär sein. Entweder wirken von außen mit aller Brutalität die Marktver­hält­nisse, also die Not, oder von innen diktiert ein allgemein anerkanntes Machtzentrum das Vorgehen; am besten aber herrscht beides. Beides fehlte jedoch bei Taurus. Angesichts der allgemein positiven Börsentendenzen gab es bei CREST keine innere Notwendigkeit. Übrigc blieb nur das Macht­zentrum der Bank of England. Genügte das, um genügend Frei­willigkeit zu erzeugen? Würden die Bürokraten bereit sein, sich selbst zu ändern?

Wie man ein Projekt mit Hilfe der Überforderung killte, das hatte die City bei Taurus bestens vorexerziert. Hier hatten vor allem die Bürokraten ihren Widerwillen ge­zeigt, denn ihre Ge­wohnheiten waren in der Zielprojektion, die hinter diesem Projekt stand, am stärksten einer Veränderung ausgesetzt gewesen.

Die Lobbyisten hatten deshalb triumphiert, weil sie das Projekt aus den verschiedensten Blickwinkeln heraus mit Forderungen und Vorschriften, Konzepten und Gegenentwürfen über­schütteten. Kurzum sie bekämpften es mit allen bürokratischen Mitteln. Bürokraten haben immer das Recht auf ihrer Seite. Denn es ist ihre einzige Pflicht, dafür zu sorgen, das Recht herrscht und sie es auf ihrer Seite haben. Begierig stürzen sie sich auf jedes Feld, das sich in einem rechtsfreien Zustand befindet, um es für sich zu besetzen.

Diese Situation fanden sie in der City vor. Mit der Dere­gulierung, dem Big Bang von 1986, hatte die LSE eine Demontage ihrer Macht akzeptieren müssen. Ein Machtvakuum war entstanden. Jeder versuchte nun, diese Lücke zu füllen, indem er seine Ansprüche vehement anmeldete ‑ mit Hilfe seiner Bürokraten. Und Taurus war genau das Projekt, das in der City zum Gegenstand der Machtprobe zwischen den unterschiedlichen Parteien wurde. Aus der gutgemeinten Deregulierung wurde so unversehens eine Destrukturierung. Letztere führte dann prompt zu einer Re‑Regu­lie­rung, die vor allem die Bürokraten auf den Plan rief. Ihre Maxime konnte nur heißen: so wenig Änderungen wie nötig im eigenen Bereich, soviele Änderungen wie möglich bei allen anderen.

TEIL I // TEIL II // TEIL III // TEIL IV // TEIL V // TEIL VI // TEIL VII //



[1] Financial Times, 2.7.93, Norma Cohen: »Proposal to speed settlement of equity trades in London market«

[2] Wall Street Journal, 1.7.93, Nicholas Bray, Terence Roth: »Bank of England sets course for stability under new governor«

[3] Wall Street Journal,2.7.93: »Bank of England proposes plan to settle faster«

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