Donnerstag, 10. Mai 2012

Teil II: Projekt Taurus - Die Kollision

»Wir implementieren nicht einfach nur ein System in einer Organisation, sondern Taurus soll sich über 280 Mitgliedsfirmen erstrecken.«

John Watson, Projektmanager von Taurus


Von Raimund Vollmer
Versuch einer virtuellen Anwendung

Taurus, der Stier, war in der Tat ein formidables Superprojekt. Der Name stand für Transfer & Automated Registration of Uncertified Stock. Er sollte, nachdem man sich 1989 nach jahrelangem Ringen endlich für ein gemeinsames, allerdings diffuses Konzept entschieden hatte, ab 1990 stufenweise in Produktion gehen und dann Stück für Stück das völlig veraltete, halbcomputerisierte und papierintensive Bör­sen­abrechnungssystem Talisman ersetzen, das 1979 eingeführt worden war und immer noch mühsam seinen Dienst tat.

· Erste Verspätung. Doch dann, als Taurus eigent­lich losstampfen sollte, hatte die Börse 1990 mit­teilen müssen, dass sie die Einführung des Abrechnungssystems auf 1991 ver­schieben müsse. Die Folge: murrende Akzeptanz.

· Zweite Verspätung. Am 17. Oktober 1991 verkündete der London Stock Exchange, dass das Projekt sich zum zweiten Mal verspäten werde. Insgesamt sei mit einer Verzögerung von nunmehr 18 Monaten zu rechnen. Erst im April 1993 könnten die Wertpapierhäuser in die vollelektronische Abrechnung ihrer Börsengeschäfte einsteigen. Die Folge: lautes Aufbrüllen unter den Mitgliedern und klammheimliche Freude.

· Dritte Verspätung. Das Jahr 1993 kam. Die ersten Tests waren im Oktober 1992 angelaufen und hatten nach & nach die gesamte Misere zum Vorschein gebracht. Bald war klar: der neue Termin konnte ebenfalls nicht gehalten werden. Eine weitere, intensive Testphase werde das gesamte Jahr 1993 in Anspruch nehmen, hieß es.[1] Da hatten die Mitglieder die Nase voll. Taurus bekam den Gnadenstoß.

Talisman musste nun weiterleben. Rund 47,5 Millionen Pfund hatte die Börse 1992 mit dieser 13 Jahre alten Software umgesetzt. Viel Geld für ein Abrechnungs‑System, das als das schlechteste in der Welt angesehen wurde! So wurde einmal mehr ein ehernes Gesetz der Pro­grammierszene bestätigt: alte Software lebt immer länger, als man denkt. Das gilt sogar dann, wenn man die Implikationen dieses Ge­setzes in die Zeitrechnung einbezieht.

Allen war klar: Talisman werde jetzt sogar die Entscheidung für die Adaption eines anderen Abrechnungssystems überleben. Denn bis dieses implementiert ist, werden ebenfalls ein bis zwei Jahre ver­ge­hen. Vor allem aber musste erst einmal eine Nachfolge‑Software ge­fun­den werden. Mehr noch: Man brauchte jemanden, der die Verantwortung für die Suche nach dem neuen Abrechnungssystem übernahm. Dies konnte nach all den Pleiten nur jemand sein, der höchste Autorität besaß, also die Bank of England. Sie hatte schon in der Ver­gan­genheit ein paarmal als heilige und unabhängige Institution bei Runaway‑Projekten in der City ausgeholfen. Bei Taurus indes war ihr Einfluss wohl zu gering gewesen. [2]

Dies hatte sich sehr zum Nachteil der City of London ausgewirkt. Die Abrechnung ist zwar das unsichtbare, aber höchst wichtige Geschäft beim Tausch von Wertpapieren in bares Geld. Es wird erst nach dem Handel vollzogen. Es ist ein durch & durch bürokratischer Akt. Taurus sollte dieses mühsame Geschäft im Back Office nicht nur einfacher machen, sondern auch die Internationalisierung der Börse vorantreiben ‑ zusammen mit einem neuen elektronischen Handelssystem, das bis 1995/96 für 40 bis 70 Millionen Pfund als Nachfolger des Kotierungssystems SEAQ (Stock Exchange Automatic Quotation) entwickelt werden sollte.

Beide, das Handels‑ und das Abrechnungssystem, sollten der Börse neue, unternehmerische Wege weisen. Doch mit dem Tod von Taurus stand nun auch das Schicksal des SEAQ‑Nachfolgers in den Sternen. Nachdem bereits 7,5 Millionen Pfund in die Vorbe­reitung investiert worden waren, hatten die Börsianer schlichtweg Angst vor Superprojekten. So dachten sie nur noch in Sicher­heits­strategien. Das ist dann stets vor allem die Stunde der Berater. Damit diese sich nicht an der Not des Kunden satt verdienen konnten, wurden sie indes in Konkurrenz zueinander positioniert. So wurde beim SEAQ‑Nachfolger, mit dessen Entwicklung Andersen Consulting beauftragt worden war, als überwachende Instanz im Juni 1993 die IBM Consulting Group eingeschaltet.[3] Es ging immerhin um viel, viel Geld. Erste Schät­zungen hatten den Aufwand für den SEAQ‑Ersatz zwischen 40 und 75 Millionen Pfund taxiert.

Die LSE-Börse scheute vor solchen Ausgaben zurück. Deshalb hatten im April 1993 fünf der größten Investmentinstitute am Platz empfohlen, Teile des New Yorker vollelektronischen NASDAQ‑Systems zu übernehmen, auf dem ohnehin SEAQ in seiner Ursprungsversion basierte.[4] Die Management‑Beratung Booz, Allen & Hamilton hatte dazu eine entsprechende Studie erarbeitet.

Mother Blues Berater wurden nun beauftragt zu evaluieren, ob es nicht preisgünstiger sei, statt Neuentwicklung ein bestehendes Börsenhandelssystem zu kaufen und dann ‑ gleichsam nach SAP‑Methode ‑ zu adaptieren. Doch erste Untersuchungen ergaben, dass es hier kaum einen Unterschied geben werde. Beide waren etwa gleich teuer. Denn Andersen Consulting hatte nun ihren Kostenvoran­schlag bei 50 Millionen Pfund eingependelt.[5] Mehr noch: Aufgrund der Erfahrungen mit Taurus musste Andersen Consulting ein Vertragswerk unter­schreiben, bei dem es drastische Konventionalstrafen hagelt, falls Termine nicht gehalten würden. Die Börse hatte gelernt. Sie schützte sich nun mit den Mitteln der Bürokratie vor den Unwägbar­keiten.

Doch es war mehr als fraglich, ob man mit diesen Verfahren tatsächlich die Dynamik von Superprojekten in den Griff bekommen würde. Bürokratische Mittel gehören nämlich eher zum Problem als zur Lösung. Juristische Auseinandersetzungen hatten noch nie ein Projekt gerettet, sondern immer nur den Scha­den verteilt. Was den wahren Charakter von Superprojekten ausmachte, war das unternehmerische Risiko, der Wage­mut. Gefragt waren also gestalterische Kräfte, die hier katalysierend wirken sollten.

Genau darauf war Taurus zugeschnitten gewesen. Doch mit seinem Scheitern hatte es allen Beteiligten den Schneid abgekauft.

Taurus hätte alle Chancen gehabt, als ein triumphales Paradebeispiel für ein unternehmensübergreifendes, kollektiv vereinbartes Projekt in die Geschichte einzugehen, bei dem vielfältige Interdependenzen bewältigt werden mussten ‑ bis tief in die Gesetzgebung hinein. Taurus war der erste Versuch einer Virtuellen Anwendung, bei der Sprachregelungen, Rechtssysteme, Kontrollmechanismen, Techniken und Infrastrukturen zwischen vielen Parteien mittels verteilter Datenverarbeitung aufeinander abgestimmt werden. Dieses Zusammenfügen diverser materieller und immaterieller Systeme war die wohl größte intellektuelle Herausforderung, vor der sich vor 20 Jahren die IT‑Bereiche in den nächsten Jahren sahen. Aber sie waren so gut wie gar nicht darauf vorbereitet. Das belegt auf tragische Weise das Beispiel Taurus.

Eine Branche, kein Projekt. Zu lange schon folgten die IT‑Manager, aber auch ihre Berater, vor allem den Innensichten der Unternehmen. Deshalb sahen sie sich jetzt zu wenig darauf vorbereitet, Außensichten zu akzeptieren und zu integrieren. Eine Entwicklung, vor der sie heute wieder stehen, wenn man sich all die Massenbewegungen im Internet anschaut, die Facebooks und Twitters. Damals war allerdings das Internet noch nicht dieses alles beherrschende Thema. Aber das änderte nichts daran, dass schon jetzt mehr als genug Unsicherheit herrschte. Und Unsicherheit führt nunmal dazu, dass man dann auf die alten Mittel der Kontrolle zugreift. Doch Kontrolle ist kein Ersatz für Vertrauen.

Superprojekte, die eine gesamte Branche umfassen, können nur auf der Basis des Vertrauens gedeihen. Das Taurus‑Pro­jekt war deshalb gescheitert, weil genau dieses Kapital von Anfang an nicht von der Gemeinschaft eingebracht wurde. Es fehlte die Vision, die von allen mitgetragen wurde. Zu viele waren Partei, niemand stand für das Ganze. Und so wurde das größte Management‑Defizit deutlich, das die achtziger Jahre hinterlassen hat: den Primat der überlieferten und verbrieften Partikular­interessen über das Gemeinsame. Und darunter - seien wir ehrlich - leiden wir noch heute.

Wenn nun versucht wurde, dieses Defizit abzubauen und das Gemeinsame wieder über das Besondere zu stellen, so waren hier in dieser Beziehung alle Anfänger ‑ egal, wie erfolgreich sie vorher gewesen waren. Da war es weiter nicht verwunderlich, wenn solche Projekte zuerst einmal den Keim des Scheiterns in sich trugen. Doch eins war ebenso sicher: die Volkswirtschaft, die sich durch solche Niederlagen nicht beirren ließ, würde als Sieger aus diesem Trend hin zu virtuellen Welten hervorgehen ‑ und nicht die, die den neuesten und höchstverdichteten Megabit‑Chip produziert. Der war letztlich ein rein technisches Problem, das maximal in der Kooperation zwischen zwei oder drei Firmen gelöst werden konnte. Doch die wirklich zukunftsweisenden Projekte betrafen das virtuelle Zusammenspiel einer ganzen Branche, das Gemeinsame. Genau das stand hinter Taurus.

»Diese Taurus‑Sache war eine Branche und kein Projekt«, zitierte zum Beispiel die Londoner Financial Times einen Insider.[6] Aber gerade deshalb brauchte es als zentrale Anlaufstelle eine natürliche Autorität. Daran fehlte es. Dies war aber auch das größte Manko bei firmeninternen Projekten und die wahre Ursache für die Legitimationskrise, in der sich die meisten IS‑Bereiche damals sahen. In der Not fiel man dann immer wieder auf das zurück, was man zu beherrschen vermeint: auf bürokratische Hilfsmittel, die indes nur formalen Autoritäten dienen. Der einzige Weg, den sie eröffnen, ist der juristische. Und das Gericht ist der wichtigste Kampfplatz der Bürokratie.

TEIL I // TEIL II // TEIL III // TEIL IV // TEIL V // TEIL VI // TEIL VII //


[1] The Economist, 5.9.92: »Unsettled controversies«

[2] Financial Times, 12.3.99, Richard Waters: »The plan that fell to earth«

[3] Financial Times, 20.6.93, Norman Cohen: »Stock exchange calls for regulator«

[4] Financial Times, 22.4.93, Richard Waters: »Survival through a part‑exchange«

[5] The Economist, 12.6.93: »System down«

[6] . Financial Times, 12.3.93, Richard Waters, Andrew Jack: »Finger of blame is pointed as jobs go«

Keine Kommentare: